4. Für alle Steuerpflichtigen: Keine verlängerte Festsetzungsfrist bei Kenntnis der Steuerdaten seitens der Finanzbehörde

Europäische Union Mandantenbrief WBS Gruppe

Eine Steuerfestsetzung ist nicht mehr zulässig, wenn deren Festsetzungsfrist abgelaufen ist. So geregelt in § 169 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO).

Für die Einkommensteuer beträgt die Festsetzungsfrist regelmäßig vier Jahre. Soweit eine Steuer hinterzogen wird, verlängert sich die Festsetzungsfrist auf fünf Jahre. Wird eine Steuer leichtfertig verkürzt, gilt immer noch eine Festsetzungsfrist von fünf Jahren. Mit Blick auf den Beginn der Festsetzungsfrist ist dieser grundsätzlich gegeben, wenn das Kalenderjahr, in dem die Steuer entstanden ist, abgelaufen ist. Von diesem Grundsatz abweichend beginnt die Festsetzungsfrist jedoch, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Dies ergibt sich aus § 170 Abs. 2 Satz 1 Nummer 1 AO.

Im vorliegenden Streitfall vor dem Finanzgericht Münster begann die Festsetzungsfrist für 2009 am 31.12.2012 und für 2010 am 31.12.2013. Dies war zwischen den Parteien unstrittig. Die Kläger hatten tatsächlich und ebenso unstrittig pflichtwidrig keine Einkommensteuererklärung für diese Kalenderjahre eingereicht. In beiden Streitjahren beträgt jedoch die Festsetzungsfrist vier Jahre, wie das erkennende Finanzgericht Münster in seiner Entscheidung vom 25.6.2022 unter dem Aktenzeichen 4 K 135/19 G dargelegt hat. Ausgehend von diesen vier Jahren läuft die Festsetzungsfrist für 2009 am 31. 12.2016 und für 2010 am 31.12.2017 ab. Nach diesen Zeitpunkten können Steuerfestsetzungen nicht mehr durchgeführt werden. Einzige Ausnahme: Es kommt zu einer verlängerten Festsetzungsfrist aufgrund einer leichtfertigen Steuerverkürzung oder einer Steuerhinterziehung.

Im vorliegend abgeurteilten Fall hat das Finanzgericht Münster jedoch für keins der beiden Jahre eine auf zehn oder fünf Jahre verlängerte Festsetzungsfrist gesehen. Mit anderen Worten: Es liegt in keinem der Jahre eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vor.

Dazu führt das Gericht wie folgt aus: Ob eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt, bestimmt sich auch bei Prüfung der Festsetzungsverjährung nach den Regelungen in §§ 370 und 378 AO. Hinterzogen sind die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung bzw. der objektive und der subjektive Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung erfüllt ist. Dies hat tatsächlich einmal der Bundesfinanzhof in einer Grundsatzentscheidung vom 2.4.2014 unter dem Aktenzeichen VIII R 38/13 herausgearbeitet.

Im konkreten Streitfall könnte eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung allenfalls deshalb in Betracht kommen, weil es pflichtwidrig unterlassen wurde die Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen in Kenntnis zu setzen. Der objektive Tatbestand der hier allein in Betracht kommenden Unterlassungsvariante setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

Im Streitfall haben die Kläger jedoch die für ihre Einkommensteuerveranlagung zuständige Finanzbehörde nicht über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen. Dem Finanzamt waren nämlich die für die Einkommensteuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umstände bekannt. Insbesondere war bei dem Finanzamt aufgrund der für die Kläger vorliegenden elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen bekannt, dass diese in den Streitjahren Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit bezogen und beim Lohnsteuerabzug die Lohnsteuerklasse III bzw. V berücksichtigt wurde. Diese elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen waren mit der gemeinsamen Steuernummer der verheirateten Kläger konkret verknüpft und ihnen tatsächlich zugeordnet worden. Sie waren in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen auch problemlos abrufbar.

Entgegen der Auffassung des Finanzamtes liegt nicht bereits deshalb eine vollendete Steuerhinterziehung durch Steuerpflichtige vor, weil sie es nach dem Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung unterlassen haben, Einkommensteuererklärungen einzureichen. Definitiv waren sie hierzu entsprechend der gesetzlichen Vorschriften verpflichtet. Allerdings reicht allein eine Verletzung von Erklärungspflichten nicht aus, um den Unterlassungstatbestand der Steuerhinterziehung zu verwirklichen.

Nach der ausdrücklichen Überzeugung des hier erkennenden Senats des Finanzgerichts Münster scheidet eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörde zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis hat.

Der Wortlaut der gesetzlichen Regelung in § 370 Abs. 1 Nummer 2 AO setzt ein In-Unkenntnis-lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen ausdrücklich voraus. Nach dem Verständnis des Senats kann ein Steuerpflichtiger eine Finanzbehörde nicht „in Unkenntnis lassen“, wenn sie tatsächlich bereits über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist. Auch der Sinn und Zweck der Regelung steht diesem Wortlaut bei der Auslegung nicht entgegen, sondern stützt ihn ja noch. Schließlich soll die Regelung das Rechtsgut schützen, wonach ein öffentliches Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen der von dieser Norm erfassten Steuer besteht. Eine Gefährdung für dieses Rechtsgut besteht hingegen nicht, wenn die Finanzbehörde tatsächlich über die für die Besteuerung wesentlichen Umstände informiert ist.

Höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage, ob eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen ausscheidet, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den für die Besteuerung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis haben oder die Finanzbehörden bereits dann in Unkenntnis gelassen werden, wenn Steuererklärungen pflichtwidrig nicht abgegeben werden, liegt nicht vor.

Auch das erstinstanzliche Finanzgericht Düsseldorf teilt in seiner Entscheidung vom 26.5.2021 unter dem Aktenzeichen 5 K 143/20 diese Rechtslage. Danach setzt der objektive Tatbestand einer durch die Nichtabgabe von Steuererklärungen begangenen Steuerhinterziehung durch Unterlassen voraus, dass der zuständige Bearbeiter der Finanzbehörde im Zeitpunkt des Abschlusses der regelmäßigen Veranlagungsarbeiten für den maßgeblichen Zeitraum von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen keine Kenntnis hat. Dieses Tatbestandsmerkmal der Unkenntnis der Finanzbehörde liegt auch nach Auffassung der Düsseldorfer Richter nicht vor, wenn ein Steuerpflichtiger, der durch die laufende Vermietung von mehr als 100 Garagen- und Außenstellplätzen unternehmerisch tätig ist, pflichtwidrig keine Umsatzsteuererklärungen abgibt, zugleich aber in den maßgeblichen Veranlagungszeiträumen den umsatzsteuerlich erheblichen Sachverhalt durch die Abgabe von ertragsteuerlichen Feststellungserklärungen gegenüber der Finanzbehörde vollständig und zeitgerecht deklariert hat.

Insoweit folgen die beiden erstinstanzlichen Gerichte ausdrücklich nicht der in der Literatur vertretenen Auffassung, nach der ein In-Unkenntnis-lassen bereits dann vorliegt, wenn ein Erklärungspflichtiger pflichtwidrig die steuerlich erheblichen Tatsachen nicht mitteilt.

In der Literatur wird häufig die Meinung vertreten, dass die Auffassung der hier zitierten erstinstanzlichen Finanzgerichte dann seine Grenzen findet, wenn neben den elektronisch übermittelten Einnahmen noch weitere Einnahmen zu erklären gewesen wären oder die elektronisch übermittelten Einnahmen nur verfügbar und nicht konkret verknüpft oder tatsächlich zugeordnet sind.

Ob diese Grenze tatsächlich gezogen wird, lässt das hier erkennende erstinstanzliche Finanzgericht Münster dahinstehen, da vorliegend die Kläger keine weiteren Einkünfte neben den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit erzielt hatten und auch sonst die mit den elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen an die Finanzverwaltung übermittelten Daten konkret mit der gemeinsamen Steuernummer der Steuerpflichtigen verknüpft und dieser tatsächlich zugeordnet waren.

Besonders erfreulich ist in diesem Zusammenhang noch die Tatsache, dass der Senat nicht der von der Finanzverwaltung vertretenen Auffassung folgt, dass eine vollendete Steuerhinterziehung bereits deshalb anzunehmen ist, weil die Steuerpflichtigen es durch die Nichtabgabe von Steuererklärungen unterlassen haben, einen mit einer Veranlagung einhergehenden Bearbeitung- und Überprüfungsvorgang