Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10.8.2023 unter dem Aktenzeichen VI R 40/20 beschäftigt sich mit einem zentralen Aspekt des deutschen Steuerrechts, nämlich der Frage, unter welchen Bedingungen Aufwendungen für die Unterbringung in einer Wohngemeinschaft als außergewöhnliche Belastungen im Sinne des § 33 des Einkommensteuergesetz (EStG) anerkannt werden können. Diese Thematik ist besonders relevant für Steuerpflichtige, die aufgrund von Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung besondere finanzielle Aufwendungen haben.
Im konkreten Fall handelt es sich um ein Ehepaar, das im Jahr 2016 zur Einkommensteuer gemeinsam veranlagt wurde. Der Ehemann ist schwerbehindert und lebt seit November 2015 in einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft, in der er zusammen mit anderen pflegebedürftigen Menschen untergebracht ist. Diese Wohngemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass die Bewohner nicht in einem klassischen Pflegeheim, sondern in einer gemeinschaftlichen Wohnform leben und von einem ambulanten Pflegedienst betreut werden. Die monatlichen Kosten für die Miete und die allgemeine Lebensführung in dieser Wohngemeinschaft beliefen sich im Streitjahr auf insgesamt 16.920 Euro. Diese Ausgaben machte das Ehepaar in seiner Einkommensteuererklärung als außergewöhnliche Belastung geltend.
Das Finanzamt lehnte die Anerkennung jedoch ab und begründete seine Entscheidung damit, dass der Ehemann nicht in einem Heim, sondern in einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft untergebracht und deshalb der Abzug ausgeschlossen sei. Dies führte dazu, dass das Ehepaar Klage beim erstinstanzlichen Finanzgericht erhob, welches die Klage teilweise für begründet erklärte und die Aufwendungen nach einer Kürzung um eine sogenannte Haushaltsersparnis als außergewöhnliche Belastung anerkannte. Gegen dieses Urteil legte der Fiskus Revision beim Bundesfinanzhof ein, da er offensichtlich eine Grundsatzentscheidung dahingehend erzwingen wollte, dass entsprechende Aufwendungen grundsätzlich nicht steuermindernd abziehbar sind.
Der Bundesfinanzhof hat die Revision des Finanzamts zurückgewiesen und das Urteil des Finanzgerichts Köln bestätigt. Dabei stellten die obersten Finanzrichter der Republik klar, dass die Aufwendungen für die krankheits- oder pflegebedingte Unterbringung in einer Einrichtung immer dann als außergewöhnliche Belastung im Sinne des § 33 EStG abziehbar sind, wenn sie dem Steuerpflichtigen zwangsläufig entstehen. Das Gericht betonte, dass es hierbei nicht zwingend erforderlich ist, dass der Steuerpflichtige in einem klassischen Pflegeheim untergebracht ist. Auch alternative Wohnformen, wie etwa vorliegend die selbstverantwortete Wohngemeinschaft, können die Voraussetzungen für eine steuerliche Berücksichtigung durchaus erfüllen.
Um zu verstehen, warum der Bundesfinanzhof die Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung anerkannt hat, ist es wichtig, die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale der außergewöhnlichen Belastungen und deren Voraussetzungen im Detail zu betrachten.
Das erste Tatbestandsmerkmal für eine außergewöhnliche Belastung ist die Zwangsläufigkeit der Aufwendungen. Nach § 33 Abs. 2 EStG sind Ausgaben nur dann als außergewöhnliche Belastungen abziehbar, wenn sie dem Steuerpflichtigen zwangsläufig erwachsen. Das bedeutet, dass der Steuerpflichtige rechtlich, tatsächlich oder sittlich verpflichtet sein muss, diese Aufwendungen zu tragen und ihnen nicht ausweichen kann. Im vorliegenden Fall ist die Zwangsläufigkeit dadurch gegeben, dass der Ehemann aufgrund seiner Schwerbehinderung und Pflegebedürftigkeit auf eine Unterbringung angewiesen ist, die eine umfassende Betreuung und Pflege sicherstellt. Die Wahl einer Wohngemeinschaft anstelle eines klassischen Pflegeheims ändert nichts an der Tatsache, dass die Aufwendungen für seine Unterbringung zwangsläufig entstehen.
Ein weiteres wesentliches Tatbestandsmerkmal ist die Außergewöhnlichkeit der Aufwendungen. Die Aufwendungen müssen über das hinausgehen, was der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie gleichen Familienstands typischerweise erwächst. In diesem Fall hat der Bundesfinanzhof klargestellt, dass die Kosten für die pflegebedingte Unterbringung in einer Wohngemeinschaft außergewöhnlich sind, weil sie unmittelbar mit der besonderen Pflegesituation des Ehemanns zusammenhängen und von anderen Steuerpflichtigen nicht in dieser Form getragen werden müssen.
Ein weiterer Punkt, der in der Rechtsprechung immer wieder betont wird, ist die Angemessenheit der Aufwendungen. Die Kosten müssen dem Grunde und der Höhe nach angemessen sein. Das erstinstanzliche Finanzgericht hatte die anerkannten Aufwendungen um eine Haushaltsersparnis gekürzt, um auf diesem Weg den Teil der Kosten zu berücksichtigen, der der normalen Lebensführung zuzurechnen ist und somit nicht als Abzug als außergewöhnliche Belastungen in Betracht kommt. Der Bundesfinanzhof hat diese Kürzung nicht nur gebilligt, sondern auch für korrekt erachtet, da die Haushaltsersparnis den regulären Lebenshaltungskosten entspricht, die dem Ehepaar auch ohne die pflegebedingte Unterbringung entstanden wären.
Zusammenfassend haben die Richter des Bundesfinanzhofes in ihrem Urteil deutlich gemacht, dass Aufwendungen für die krankheits- oder pflegebedingte Unterbringung auch in alternativen Wohnformen wie einer selbstverantworteten Wohngemeinschaft als außergewöhnliche Belastungen steuerlich abziehbar sind, sofern sie zwangsläufig, außergewöhnlich und angemessen sind.
Diese überaus erfreuliche Entscheidung ist ein wichtiger Schritt in der Rechtsprechung zur steuerlichen Behandlung von Pflegekosten und zeigt, dass der Bundesfinanzhof bei der Beurteilung außergewöhnlicher Belastungen nicht nur klassische Pflegeheime berücksichtigt, sondern auch moderne, gemeinschaftliche Wohnformen, wie sie wahrscheinlich in der Zukunft auch noch häufiger vorkommen werden. Diese Entwicklung ist vor allem vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Pflegekultur in Deutschland von enormer Bedeutung, da immer mehr Menschen alternative Wohn- und Betreuungsformen wählen.