Die steuerliche Behandlung von Kapitalerträgen wirft insbesondere bei Holdingkapitalgesellschaften mit einer strukturellen Überzahlersituation immer wieder Fragen auf. Eine zentrale Bedeutung hat hierbei die Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (Überzahlerbescheinigung), die es ermöglicht, Kapitalerträge vom Steuerabzug zu befreien, wenn die Kapitalertragsteuer dauerhaft die festzusetzende Körperschaftsteuer übersteigt.
Im vorliegenden Urteil des Bundesfinanzhofs vom 12.12.2023, Aktenzeichen VIII R 31/21, wurde entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine solche Bescheinigung zu erteilen ist, wenn eine Holdingkapitalgesellschaft aufgrund ihrer Struktur keine andere Geschäftstätigkeit entfalten kann.
Im Streitfall war die Klägerin eine GmbH, die als Holdingkapitalgesellschaft fungierte. Ihr Unternehmensgegenstand umfasste das Halten und Verwalten eigenen Vermögens sowie die Erbringung von Beratungsleistungen, allerdings beschränkte sich ihre tatsächliche Tätigkeit auf die Verwaltung einer einzigen Tochtergesellschaft. Die Klägerin war Alleingesellschafterin der Tochtergesellschaft und erzielte ihre Einnahmen fast ausschließlich aus Ausschüttungen dieser Beteiligung. Beratungsleistungen wurden nur für die Tochtergesellschaft erbracht, wobei die Klägerin keine eigenen personellen Ressourcen hatte und die Beratungsleistungen extern einkaufte. Diese wurden anschließend nahezu kostendeckend an die Tochtergesellschaft weitergegeben. In den vergangenen Jahren war die von der Tochtergesellschaft einbehaltene und abgeführte Kapitalertragsteuer regelmäßig höher als die festzusetzende Körperschaftsteuer der Klägerin, weshalb sie eine Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) beantragte, um den Kapitalertragsteuerabzug zu vermeiden.
Das zuständige Finanzamt lehnte den Antrag jedoch mit der Begründung ab, dass die Klägerin nach ihrer Satzung zur Entfaltung weiterer Geschäftstätigkeiten in der Lage sei und somit ihre Überzahlersituation vermeiden könne. Diese Argumentation stützte sich auf die Annahme, dass die Möglichkeit zur Änderung der Geschäftstätigkeit der Klägerin eine dauerhafte strukturelle Überzahlersituation ausschließe. Nach erfolglosem Einspruch klagte die Klägerin vor dem Finanzgericht München, das dann auch erfreulicherweise zu ihren Gunsten entschied. Gegen dieses Urteil legte das Finanzamt Revision ein.
Der Bundesfinanzhof wies die Revision des Finanzamts mit Urteil vom 12.12.2023 zurück und entschied, dass die Klägerin Anspruch auf die Bescheinigung hat. Die obersten Finanzrichter begründeten dies mit den besonderen Umständen des Falls, die eine strukturelle Überzahlersituation aufgrund der »Art der Geschäfte« im Sinne des § 44a Abs. 5 Satz 1 des EStG bestätigten. Dabei verwies der Bundesfinanzhof auf seine bisherige Rechtsprechung, nach der eine Überzahlersituation dann als strukturell bedingt anzusehen ist, wenn sie untrennbar mit der Art der ausgeübten Geschäftstätigkeit verbunden ist. Im konkreten Fall basierte die Überzahlersituation der Klägerin auf der weitgehenden Steuerfreiheit der Beteiligungserträge gemäß § 8b Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG), die jedoch beim Kapitalertragsteuerabzug unberücksichtigt bleibt. Die entstehende Steuerlast kann daher erst durch Anrechnung oder Erstattung im Rahmen der Veranlagung gemindert werden. Dies führt zwangsläufig zu einer dauerhaften Überzahlersituation, die strukturell bedingt ist.
Der Bundesfinanzhof stellte außerdem fest, dass die theoretische Möglichkeit einer Änderung der Unternehmensstruktur oder -satzung nicht ausreicht, um die Dauerhaftigkeit der Überzahlersituation in Frage zu stellen. Solange keine konkreten Hinweise auf eine tatsächliche Änderung der Geschäftstätigkeit vorliegen, ist von einer dauerhaften strukturellen Überzahlersituation auszugehen. Die Tatsache, dass die Klägerin Beratungsleistungen ausschließlich für ihre Tochtergesellschaft erbringt und diese weder am Markt anbietet noch dazu in der Lage ist, solche Leistungen gewinnbringend zu vermarkten, bestätigte nach Ansicht des Gerichts die strukturelle Unveränderbarkeit der Situation.
Das Gericht stellte zudem klar, dass es für die Beurteilung irrelevant ist, ob die Klägerin theoretisch höhere Preise für ihre Beratungsleistungen von der Tochtergesellschaft verlangen könnte. Maßgeblich ist, dass ein solcher Preis am Markt nicht realisierbar wäre, da Dritte in diesem Fall direkt die Beratungsleistungen ohne die Zwischenschaltung der Klägerin beauftragen würden. Die Überzahlersituation beruhte somit auf der Art der Geschäfte der Klägerin und nicht auf der Art und Weise, wie diese Geschäfte durchgeführt wurden.
Das Urteil verdeutlicht aber auch, dass die Bescheinigung nach § 44a Abs. 5 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes unter dem Vorbehalt des Widerrufs steht, sodass sich Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse jederzeit auf die Gültigkeit der Bescheinigung auswirken können.