1. Für alle Steuerpflichtigen: Zum Erlass von Säumniszuschlägen gegenüber einem an sich pünktlichen Steuerzahler

Schreibtisch mit Unterlagen, einem Taschenrechner und einer Brille

Ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen entsprechend der Regelung in § 227 der Abgabenordnung (AO) ist sogar geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. In diesem Zusammenhang spricht man von einem sogenannten Gesetzesüberhang, wie beispielsweise schon der Bundesfinanzhof in einer frühen Entscheidung vom 14.9.1978 unter dem Aktenzeichen V R 35/72 herausgearbeitet hat.

Aber auch nach der ständigen Rechtsprechung sind Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Darüber hinaus verfolgt die Regelung des § 240 AO den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der zahlungsfälligen Steuern zu erhalten. Durch Säumniszuschläge werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, dass Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder zumindest nicht fristgemäß zahlen. Auch diese Auffassung entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, so beispielsweise in der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 18.6.1998 unter dem Aktenzeichen V R 13/98.

Sachlich unbillig ist die Erhebung von Säumniszuschlägen vor diesem Hintergrund beispielsweise dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert. So der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 16.7.1997 unter dem Aktenzeichen XI R 32/96.

Ein den Erlass rechtfertigender sachlicher Billigkeitsgrund kann ferner gegeben sein, wenn die Säumnis sich letztlich als offenbares Versehen eines bislang pünktlichen Steuerzahlers erweist. Auch dies ist die Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, so beispielsweise mit Entscheidung vom 15.5.1990 unter dem Aktenzeichen VII R 7/88.

Hat dagegen ein Steuerschuldner seine Steuern laufend unter Ausnutzung der Schonfrist des § 240 Abs. 3 AO gezahlt, so handelt die Behörde nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie einen Antrag eines solchen Schuldners auf Erlass von Säumniszuschlägen aus Billigkeitsgründen ablehnt, auch wenn dieser erstmals die Schonfrist versäumt und für die Säumnis Entschuldigungsgründe vorgetragen hat. In diesem Sinne hat sowohl bereits der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 15.5.1990 unter dem Aktenzeichen VII R 7/88 entschieden als auch das Finanzgericht Hamburg mit Entscheidung vom 20.10.2003 unter dem Aktenzeichen IV 249/00.

Auch nach den – die Gerichte definitiv nicht bindenden – Verwaltungsvorschriften der Zollverwaltung liegen in Bezug auf Säumniszuschläge Umstände vor, die eine Billigkeitsmaßnahme rechtfertigen können. So beispielsweise bei plötzlicher Erkrankung des Steuerpflichtigen, wenn er selbst dadurch an der pünktlichen Zahlung gehindert war und es dem Steuerpflichtigen seit seiner Erkrankung bis zum Ablauf der Zahlungsfrist nicht möglich war, einen Vertreter mit der Zahlung zu beauftragen. Ebenso bei einem pünktlichen Steuerzahler, dem ein offenbares Versehen unterlaufen ist, wobei unter einem „offenbaren Versehen“ ein allenfalls leichter Verstoß gegen die bei der Steuerzahlung gebotene Sorgfaltspflicht zu verstehen sein soll.

Unter Berücksichtigung der vorstehend beschriebenen Grundsätze kommt aktuell das Finanzgericht Hamburg in einer Entscheidung vom 4.8.2021 unter dem Aktenzeichen 4 K 11/20 zu dem Schluss, dass die hier beklagte Finanzbehörde ermessensfehlerhaft gehandelt hat, weil der Erlass der Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen versagt wurde. Die beklagte Finanzbehörde hat zwar erkannt, dass ihr hinsichtlich der Entscheidung nach § 227 AO Ermessen eingeräumt ist. Von diesem Ermessen hat sie auch in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und dabei grundsätzlich auch die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze in nicht zu beanstandender Weise auf den Streitfall angewendet. So hat die beklagte Finanzbehörde in ihrer Einspruchsentscheidung zutreffend ausgeführt, dass die in § 240 Abs. 3 AO normierte Schonfrist nicht die Zahlungsfrist verlängere, sondern eine vom Gesetz vorgenommene Billigkeitsmaßnahme darstellt, um in Fällen geringfügiger Zahlungsfristüberschreitung auf eine Erhebung von Säumniszuschlägen verzichten zu können. Weiterhin hat sie in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung gegenüber dem Steuerpflichtigen ausgeführt, dass Steuerschuldner, die die Steuer laufend unter Ausnutzung der Schonfrist zahlten, keine pünktlichen Steuerzahler sind.

Dennoch hat die hier beklagte Finanzbehörde nur vermeintlich alles richtig gemacht. Tatsächlich hat sie ihre Ermessensentscheidung nämlich nicht auch anhand eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen. Zwar hat sie zutreffend darauf hingewiesen, dass die Klägerin in der Vergangenheit in Bezug auf 19 Steueranmeldungen, wobei sich diese auf lediglich fünf Fälligkeitstermine beziehen, die Steuerbeträge verspätet entrichtet hatte. Auf die Erhebung von Säumniszuschlägen war jeweils nur aus dem Grund verzichtet worden, weil die verspäteten, also außerhalb der Zahlungsfrist erfolgten Zahlungen noch innerhalb der Schonfrist des § 240 Abs. 3 AO geleistet wurden. Vor diesem Hintergrund hatte die beklagte Finanzbehörde zunächst zutreffend gefolgert, dass die Klägerin in Bezug auf die vorliegend in Rede stehenden Steuerbeträge weder erst- noch einmalig Steuern verspätet entrichtet habe. Die weitere Schlussfolgerung der beklagten Finanzbehörde indes: Mit Blick auf diese Zahlungsverstöße sei die Steuerpflichtige in dem zu betrachtenden Zeitraum nicht als ein bisher pünktlicher Steuerzahler zu sehen. Das wertet das erstinstanzliche erkennende Finanzgericht Hamburg als fehlerhaft.

Der Grund: Ob eine natürliche oder juristische Person als pünktlicher oder nicht pünktlicher Steuerzahler zu betrachten ist, beurteilt sich nicht anhand einer einzelnen Steuerart, sondern ist in einer Gesamtschau zu prüfen, bei der alle für das Verhältnis zwischen den Steuerzahlern und der Finanz- bzw. Zollverwaltung relevanten Umstände heranzuziehen sind. Hinsichtlich des Streitfalls hätte sich die beklagte Finanzbehörde daher nicht darauf beschränken dürfen, das Zahlungsverhalten der Steuerpflichtigen in Bezug auf die pünktliche Entrichtung der hier vorliegenden Steuer, hier die Energiesteuer im Zeitraum von 2016 bis 2017, zu untersuchen. Vielmehr hätte die Finanzbehörde auch nachprüfen und in ihrer Ermessensentscheidung als entscheidungserheblichen Gesichtspunkt einbeziehen müssen, ob die Klägerin insgesamt, also auch in Bezug auf die Steuerarten Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer und Lohnsteuer, als eine pünktliche oder unpünktliche Steuerzahlerin anzusehen ist.

Hätte die beklagte Finanzbehörde diese Prüfung vorgenommen, hätte sie vor dem Hintergrund, dass keine fälligen Steuerrückstände bestehen, dass keine Steuerbeträge gestundet wurden und dass das Zahlungsverhalten in den jeweiligen letzten zwölf Monaten immer pünktlich war, zu einem anderen Gesamteindruck kommen müssen. Vor diesem Gesamthintergrund ist die Schlussfolgerung der beklagten Finanzbehörde, die Klägerin sei mit Blick auf die vermehrten Zahlungsverstöße nicht als eine bisher pünktliche Steuerzahlerin zu betrachten, rechtlich nicht vertretbar und damit fehlerhaft.

Das erkennende Gericht bewertet insoweit die streitgegenständliche Überschreitung der Schonfrist als leichten Verstoß einer bisher insgesamt pünktlichen Steuerzahlerin. Insoweit hat die Steuerzahlerin dargelegt, dass die Überschreitung der Schonfrist auf einer Verkettung unglücklicher Umstände beruhte, nämlich auf dem kurzfristigen Personalausfall im Geschäftsbereich Energie und dem hiermit zeitlich zusammenfallenden Umstrukturierungsprozess in der Gesellschaft. Das Zusammentreffen dieser beiden Umstände war für das Entstehen der Säumniszuschläge von entscheidender Bedeutung. Insoweit handelt es sich auch um kein Organisationsverschulden im Betrieb, was bereits dadurch deutlich wird, dass die Steuerpflichtige die Säumnis selbst bemerkt und die Zahlung unverzüglich nach Bemerken der Säumnis nachgeholt hatte.

Wie bereits ausgeführt, haben Säumniszuschläge einen doppelten Zweck. Sie sind zum einen ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Sie verfolgen zum anderen den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuerschulden zu erhalten und Verwaltungsaufwendungen abzugelten, die bei den steuerverwaltenden Körperschaften regelmäßig entstehen, wenn Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß entrichten. Säumniszuschläge, die – wie hier – gegenüber einem an sich pünktlichen Steuerzahler erhoben werden, verlieren ihren Zweck als Druckmittel, den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung seiner steuerrechtlichen Verbindlichkeiten anzuhalten, was bereits für sich genommen einen hälftigen Erlass der verwirkten Säumniszuschläge rechtfertigt. Etwas anderes mag ausnahmsweise dann gelten, wenn die Säumniszuschläge auf einem besonders verwerflichen Fehlverhalten des Steuerzahlers oder auf einer Einstellungs- oder Verhaltensweise beruhen, die weitere Verstöße gegen die bei der Steuerzahlung gebotenen Sorgfaltspflichten in absehbarer Zeit vermuten lassen. Bei Sachverhalten dieser Art dürfte es bereits an der Erlasswürdigkeit des Steuerzahlers fehlen, so dass das Ermessen der Verwaltung schon nicht eröffnet ist.

In Fallkonstellationen der vorliegenden Art kann die Säumnis des an sich pünktlichen Steuerzahlers allerdings zu Verwaltungsaufwendungen führen, die die Schwelle der Geringfügigkeit überschreiten. Hat die Säumnis des Steuerzahlers einen nicht nur geringfügigen Verwaltungsaufwand ausgelöst, handelt die Verwaltung in der Regel nicht ermessensfehlerhaft, wenn sie lediglich die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge erlässt und einen vollständigen Erlass der Säumniszuschläge ablehnt. Hat die Säumnis des Steuerzahlers aber keinen oder nur einen geringfügigen Verwaltungsaufwand verursacht, ist auch der weitere, mit der Erhebung von Säumniszuschlägen verfolgte Zweck entfallen mit der Folge, dass als ermessensfehlerfreie Entscheidung allein ein vollständiger Erlass der Säumniszuschläge in Betracht kommt.

Soweit ersichtlich hat die Finanzbehörde im vorliegenden Fall gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg die Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt. Diese wird aktuell unter dem Aktenzeichen VII B 135/21 geführt.