Mit Entscheidung vom 28.9.2021 hat der Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen VIII R 2/19 entschieden, dass die antragsgebundene Steuervergünstigung des § 34 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), die der Steuerpflichtige nur einmal im Leben in Anspruch nehmen kann, auch dann verbraucht ist, wenn das Finanzamt die Vergünstigung zu Unrecht gewährt hat. Dies soll ausweislich der Entscheidung selbst dann gelten, wenn dies ohne Antrag des Steuerpflichtigen geschieht und ein Betrag begünstigt besteuert wird, bei dem es sich tatsächlich nicht um einen Veräußerungsgewinn handelt, der die Steuervergünstigung rechtfertigen würde.
Etwas anderes soll ausweislich der drakonischen Entscheidung des Bundesfinanzhofs nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nur dann gelten, wenn die falsche Gewährung der Vergünstigung in dem früheren Bescheid für den Steuerpflichtigen angesichts der geringen Höhe der Vergünstigung und wegen des Fehlens eines Hinweises des Finanzamtes nicht erkennbar war.
Insgesamt ist die Entscheidung des Bundesfinanzhofs durchaus bedenklich, weshalb ein genauerer Blick auf die Urteilsbegründung lohnt.
Außerordentliche Einkünfte werden regelmäßig ermäßigt besteuert. Alternativ zu dieser grundsätzlichen Regelung, welche in den Abs. 1 und 2 des § 34 EStG beheimatet sind, gewährt Abs. 3 speziell für Veräußerungsgewinne auf Antrag eine Steuersatzermäßigung, wenn der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet hat oder wenn er im sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig ist. Das Besondere daran: Diese Ermäßigung kann der Steuerpflichtige nur einmal im Leben in Anspruch nehmen.
Ausweislich der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist eine antragsgebundene Steuervergünstigung, die dem Steuerpflichtigen nur einmal gewährt werden kann, für die Zukunft auch dann verbraucht, wenn die Vergünstigung vom Finanzamt zu Unrecht gewährt worden ist. Dies soll auch gelten, wenn insbesondere ein erforderlicher Antrag vom Steuerpflichtigen nicht gestellt wurde. Entscheidend ist in den Augen der Rechtsprechung allein, dass sich die Vergünstigung auf die frühere Steuerfestsetzung ausgewirkt hat und sie dort nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Wenn der Steuerpflichtige sich die Möglichkeit vorbehalten möchte, die Vergünstigung in einem späteren Jahr in Anspruch zu nehmen, muss er die Steuerfestsetzung anfechten, in der die Vergünstigung zu Unrecht gewährt worden ist.
Nach höchstrichterlicher Auffassung braucht der Steuerpflichtige sich die rechtswidrige Gewährung der Vergünstigung in einem Vorjahr nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nur dann nicht entgegenhalten zu lassen, wenn für ihn angesichts der geringen Höhe der Vergünstigung und des Fehlens eines Hinweises im Bescheid nicht erkennbar gewesen ist, dass das Finanzamt die Vergünstigung ohne den erforderlichen Antrag gewährt hatte. Zu solchen Fällen hat der Bundesfinanzhof bereits mit Urteil vom 21.7.2009 unter dem Aktenzeichen X R 2/09 sowie in seinem Beschluss vom 1.12.2015 unter dem Aktenzeichen X B 111/15 Stellung genommen.
Die höchstrichterliche Rechtsprechung differenziert dabei weder danach, ob oder aus welchem Grund die Vergünstigung zu Unrecht gewährt wurde. Noch geht sie davon aus, dass für eine Inanspruchnahme der Ermäßigung ein entsprechender Antrag des Steuerpflichtigen erforderlich ist. Ein Verbrauch des ermäßigten Steuersatzes wird daher auch dann angenommen, wenn kein begünstigungsfähiger Veräußerungsgewinn vorgelegen hat und kein Antrag des Steuerpflichtigen auf Gewährung der Vergünstigung gestellt wurde! Maßgeblich für den Verbrauch der Vergünstigung ist allein, dass der Steuerpflichtige den ihn begünstigenden Irrtum des Finanzamtes erkennt und belegt.
Die Auffassungen im Schrifttum sind dazu durchaus geteilt. Auf der einen Seite wird die Auffassung vertreten, dass ein entsprechender Verbrauch wie zuvor geschildert stattfindet. Allerdings wird auch vertreten, dass der ermäßigte Steuersatz sich zumindest dann nicht verbraucht, wenn es an einem Veräußerungsgewinn fehlt und er daher nicht hätte in Anspruch genommen werden können.
Der vorliegende Senat des Bundesfinanzhofs, der (wie er selbst sagt) der Rechtsprechung (nur) aus Gründen der Rechtsprechungskontinuität folgt, vertritt ebenfalls die Meinung, dass das Normverständnis, wonach ein Verbrauch eintritt, vom Wortlaut der gesetzlichen Regelung gedeckt ist.
Dieser ist nämlich nicht zu entnehmen, dass der Verbrauch der Vergünstigung nur eintritt, wenn die Tarifermäßigung für einen tatsächlich erzielten Veräußerungsgewinn in Anspruch genommen wird. Aus dem Wortlaut ist auch nicht herzuleiten, dass eine zum Verbrauch führende Inanspruchnahme der Vergünstigung nur vorliegt, wenn der Steuerpflichtige einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Die Formulierung „in Anspruch nehmen“ verdeutlicht nach Auffassung des erkennenden Senates zwar, dass das Gesetz dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht einräumt, zwingt aber nicht zu der Annahme, für eine Inanspruchnahme sei aktives Handeln des Steuerpflichtigen erforderlich. Ein solches wird aufgrund des Antragserfordernisses zwar regelmäßig vorliegen. In Anspruch genommen wird die Vergünstigung aber auch dann, wenn das Finanzamt fälschlicherweise vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Vergünstigung ausgeht und der Steuerpflichtige diese für ihn günstige Entscheidung billigt.
Zudem führt der Bundesfinanzhof aktuell weiter aus, dass sein Normverständnis auch nicht im Widerspruch zu Sinn und Zweck der Begünstigung steht. Der Gesetzgeber möchte mit der Regelung den anlässlich seines Ausscheidens aus dem Berufsleben erzielten Gewinn des Steuerpflichtigen zur Sicherung der Altersvorsorge steuerlich begünstigen. Der Steuerpflichtige soll alternativ zur Begünstigung in § 34 Abs. 1 EStG den halben durchschnittlichen Steuersatz in Anspruch nehmen können. So ergibt es sich aus der damaligen Bundestagsdrucksache. Allerdings soll dies nur einmal im Leben möglich sein. Demnach soll der Steuerpflichtige nicht mehrfach in den Genuss der Vergünstigung kommen. Dies wäre jedoch der Fall, wenn eine zu Unrecht gewährte und vom Steuerpflichtigen gebilligte Ermäßigung, die sich endgültig mindernd auf die Steuerfestsetzung ausgewirkt hat, nicht zu deren Verbrauch führt. Daher kommen die obersten Finanzrichter der Republik zu dieser drakonischen Entscheidung.
Fraglich ist, ob dies tatsächlich im Einklang mit der Verfassung steht. Immerhin gilt zu bedenken, dass im abgeurteilten Sachverhalt der Steuerpflichtige weder einen Antrag auf die ermäßigte Besteuerung gestellt hat noch überhaupt einen entsprechenden Veräußerungsgewinn erzielt hatte. Insgesamt ist der Vorgang damit allein und vollkommen ausschließlich auf einen Fehler des Finanzamtes zurückzuführen. Nur aus der Tatsache heraus, dass der Steuerpflichtige diesen Fehler erkannt haben soll und dementsprechend gebilligt hat, soll nun bei einem wirklichen Antrag und einem tatsächlichen Veräußerungsgewinn der ermäßigte Steuersatz nicht mehr angewendet werden dürfen. Dies hat schon ein gewisses Geschmäckle. Ob ein Verfassungsverstoß gegeben ist, bleibt dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorbehalten, jedoch ist derzeit insoweit (leider) keine Anhängigkeit zu erkennen.