Bei Wirtschaftsgütern, deren Verwendung oder Nutzung durch den Steuerpflichtigen zur Erzielung von Einkünften sich erfahrungsgemäß auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr erstreckt, ist jeweils für ein Jahr der Teil der Anschaffungs- oder Herstellungskosten abzusetzen, der bei gleichmäßiger Verteilung dieser Kosten auf die Gesamtdauer der Verwendung oder Nutzung auf ein Jahr entfällt. Man spricht dabei auch von der Abschreibung in gleichen Jahresbeträgen bzw. der linearen Abschreibung. Die Absetzung bemisst sich hierbei nach der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer des Wirtschaftsgutes. Abweichend von dieser betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer bestimmt sich die Abschreibung für ein zur Einkünfteerzielung genutztes Gebäude nach dem festen Prozentsatz der Regelung in § 7 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Die Regelung stellt eine gesetzliche Typisierung der Nutzungsdauer im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 EStG dar.
Allerdings gibt es Ausnahmen. So können gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG anstelle der typisierten Nutzungsdauer die der tatsächlich kürzere Nutzungsdauer eines Gebäudes entsprechenden Abschreibungen vorgenommen werden. Nutzungsdauer ist dabei der Zeitraum, in dem ein Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann. Die zu schätzende Nutzungsdauer wird bestimmt durch den technischen Verschleiß, die wirtschaftliche Entwertung sowie rechtliche Gegebenheiten, welche die Nutzungsdauer eines Gegenstands begrenzen können. Auszugehen ist von der technischen Nutzungsdauer, also dem Zeitraum, in dem sich das Wirtschaftsgut technisch abnutzt. Sofern die wirtschaftliche Nutzungsdauer kürzer als die technische Nutzungsdauer ist, kann sich der Steuerpflichtige hierauf berufen. Ob den Abschreibungen für Abnutzung eine die gesetzlich vorgesehenen typisierten Zeiträume unterschreitende verkürzte Nutzungsdauer zugrunde gelegt werden kann, beurteilt sich regelmäßig nach den Verhältnissen des Einzelfalls und muss daher individuell entschieden werden. So auch bereits der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung vom 4.3.2008 unter dem Aktenzeichen IX R 16/07.
Es ist folglich Sache des Steuerpflichtigen, im Einzelfall eine kürzere tatsächliche Nutzungsdauer darzulegen und gegebenenfalls nachzuweisen. Dies hat auch bereits der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung vom 28.7.2021 unter dem Aktenzeichen IX R 25/19 eindeutig und sehr praxisnah herausgearbeitet. Der Steuerpflichtige kann sich danach zur Darlegung der verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer eines zur Einkünfteerzielung genutzten Gebäudes jeder Darlegungsmethode bedienen, die im Einzelfall zur Führung des erforderlichen Nachweises geeignet erscheint. Erforderlich ist insoweit lediglich, dass die Darlegungen des Steuerpflichtigen Aufschluss über die maßgeblichen Gründe geben, welche die Nutzungsdauer im Einzelfall beeinflussen, und auf deren Grundlage der Zeitraum, in dem das maßgebliche Gebäude voraussichtlich seiner Zweckbestimmung entsprechend genutzt werden kann, im Wege der Schätzung mit hinreichender Bestimmtheit zu ermitteln ist. Solche Gründe können beispielsweise der technische Verschleiß sein, die wirtschaftliche Entwertung oder auch rechtliche Nutzungsbeschränkungen.
Die Bestimmung des § 7 Abs. 4 Satz 2 EStG räumt dabei dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht ein, ob er sich mit dem typisierten Abschreibungssatz zufrieden gibt oder eine tatsächlich kürzere Nutzungsdauer geltend macht und darlegt. Auszugehen ist im Rahmen der vom Finanzamt durchzuführenden Amtsermittlung von der Schätzung des Steuerpflichtigen, solange dieser Erwägungen zugrunde liegen, wie sie ein vernünftig wirtschaftender Steuerpflichtiger üblicherweise anstellt. So auch bereits der Bundesfinanzhof in seiner zuvor zitierten Entscheidung vom 28.7.2021. Da im Rahmen der Schätzung des Steuerpflichtigen nicht Gewissheit über die kürzere tatsächlichen Nutzungsdauer, sondern allenfalls größtmögliche Wahrscheinlichkeit verlangt werden kann, ist sie nur dann zu verwerfen, wenn sie eindeutig außerhalb des angemessenen Schätzungsrahmens liegt. Auch dies ist bereits gerichtlich geklärt, beispielsweise durch die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 28.9.1971 unter dem Aktenzeichen VIII R 73/78 oder durch eine jüngere erstinstanzliche Entscheidung des Finanzgerichtes Köln vom 23.1.2001 unter dem Aktenzeichen 8 K 6294/95.
Entgegen den immer wieder zu hörenden Wünschen von Seiten der Finanzverwaltung ist die Vorlage eines Bausubstanzgutachtens seitens des Klägers nicht Voraussetzung für die Anerkennung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer. Wählt ein Steuerpflichtiger oder ein beauftragter Sachverständiger aus nachvollziehbaren Gründen eine andere Nachweismethode, kann diese Grundlage für eine Schätzung einer verkürzten tatsächlichen Nutzungsdauer sein. Da im Rahmen der Schätzung nur die größtmögliche Wahrscheinlichkeit über eine kürzere tatsächlichen Nutzungsdauer verlangt werden kann, würde eine Verengung der Gutachtenmethodik oder eine Festlegung auf ein bestimmtes Ermittlungsverfahren die Anforderungen an die Feststellungslast übersteigen. Auch dies haben die obersten Finanzrichter der Republik in ihrer Entscheidung vom 28.7.2021 so herausgearbeitet.
Im vorliegenden Streitfall hatte der Kläger ein Wertgutachten eines öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen vorgelegt, welches vom Amtsgericht in Auftrag gegeben wurde, also kein Parteigutachten darstellte. Der Gutachter kommt darin zu dem Ergebnis, dass die Restnutzungsdauer des Hauses 30 Jahre beträgt. Hierbei hat er wegen Modernisierung und Zustand als fiktives Baujahr das Jahr 1960 angegeben, obwohl das Gebäude im Jahr 1955 errichtet wurde. Nach seiner Einschätzung bzw. der Einschätzung der Eigentümer entsprachen sowohl die Wohnung im Obergeschoss als auch die im Dachgeschoss der Ausstattung von 1955. Dies wurde faktisch dadurch bestätigt, dass in den nach der Anschaffung folgenden Jahren umfangreiche Sanierungsarbeiten durchgeführt wurden, welche als anschaffungsnahe Herstellungskosten in die Abschreibungsbemessungsgrundlage eingeflossen sind. In seiner Wertermittlung für das streitige Gebäude musste der Gutachter das Alter und die Restnutzungsdauer des Gebäudes einbeziehen. Nach der auf den Stichtag der Bewertung der streitigen Immobilie geltenden Wertverordnung bestimmt sich eine Wertminderung wegen Alters nach dem Verhältnis der Restnutzungsdauer zur Gesamtnutzungsdauer der baulichen Anlage. Sie ist in einem Vomhundertsatz des Herstellungswerts auszudrücken. Ist die bei ordnungsgemäßem Gebrauch übliche Gesamtnutzungsdauer der baulichen Anlagen durch Instandsetzungen oder Modernisierungen verlängert worden oder haben unterlassene Instandhaltungen oder andere Gegebenheiten zu einer Verkürzung der Restnutzungsdauer geführt, soll der Bestimmung der Wertminderung wegen Alters die geänderte Restnutzungsdauer und die für die baulichen Anlagen übliche Gesamtnutzungsdauer zugrunde gelegt werden.
Nach Auffassung des Finanzgerichts Münster hat der Sachverständige aufgrund sachlicher Kriterien eine Restnutzungsdauer von 30 Jahren zugrunde gelegt. Unter anderem hat er festgestellt, dass erhebliche Instandsetzungsarbeiten bis zur Kernsanierung mit Erneuerung und Ergänzung der gesamten Installation vom Kellergeschoss bis zum Dachgeschoss sowie an Fassade und dem Dach erforderlich waren, um eine nachhaltige Nutzung mit modernem Wohnraum zu schaffen. Insoweit folgt das erstinstanzliche Gericht den fundierten Ausführungen des Gutachters und kann feststellen, dass die tatsächliche Nutzungsdauer der streitigen Immobilie zum Zeitpunkt der Anschaffung auf 30 Jahre verkürzt war.
Wie in dem vom Bundesfinanzhof mit Urteil vom 28.7.2021 entschiedenen Verfahren hat der Gutachter eine modellhafte Ermittlung der Restnutzungsdauer durchgeführt. Während der Gutachter in dem Fall des Bundesfinanzhofs das Modell gemäß Anlage vier der Sachwertrichtlinie vom 5.9.2012 angewendet hat, hat der Gutachter im Streitfall sowohl eine Ertragswertermittlung als auch eine Vergleichswertermittlung nach der Wertverordnung durchgeführt. Wie im Fall vor dem Bundesfinanzhof erfolgte neben der modellhaften Berechnung eine Inaugenscheinnahme des Gebäudes, um die Bauweise und etwaige ausstehende Modernisierungs- bzw. Sanierungsarbeiten beurteilen zu können. Der festgestellte Modernisierungsstau führte im Streitfall zu der für das Gericht nachvollziehbaren Einschätzung des Gutachters, dass von einer Restnutzungsdauer von 30 Jahren auszugehen ist. Dieses Ergebnis sahen die erstinstanzlichen Richter jedenfalls nicht erheblich außerhalb des zulässigen Schätzungsrahmens. Nach alledem war insoweit eine jährliche Abschreibung mit einem Satz von 3,33 % zugrunde zu legen.
Für Vermieter kann es sich daher lohnen, die eigene Immobilie zu betrachten und auch hier gegebenenfalls eine verkürzte Restnutzungsdauer für die Abschreibung anzusetzen. Dies muss tatsächlich nicht unbedingt im Jahr der Anschaffung der Immobilie geschehen. Auch wenn die Immobilie schon Jahre im Besitz ist, kann aufgrund der Abschnittsbesteuerung noch eine kürzere Restnutzungsdauer und somit eine höhere Abschreibung angesetzt werden. Voraussetzung ist lediglich, dass diese auch tatsächlich argumentativ untermauert werden kann.