Der sogenannte Kirchensteuererstattungsüberhang ist geregelt in § 10 Absatz 4b Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Bei der durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 eingeführten Vorschrift kommt es insbesondere auf den Zufluss der Erstattung an.
Ein Erstattungsüberhang liegt insoweit vor, wenn die im Veranlagungszeitraum erstatteten Aufwendungen die geleisteten Aufwendungen übersteigen. Der Bundesfinanzhof ist aufgrund der Auslegung der Gesetzesvorschrift der Auffassung, dass ein Erstattungsüberhang in Bezug auf Kirchensteuer nicht voraussetzt, dass der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum der Kirchensteuererstattung zugleich eine Kirchensteuerzahlung erbracht hat. Ein Erstattungsüberhang im Sinne der gesetzlichen Vorschrift kann daher auch vorliegen, wenn im Erstattungsjahr keine Kirchensteuer gezahlt worden ist.
Maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Dessen Feststellung bindet die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung), aus dem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen. Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist. Gegen seinen Wortlaut ist die Auslegung eines Gesetzes allerdings nur ausnahmsweise möglich, wenn die wortgetreue Auslegung zu einem sittenwidrigen Ergebnis führt, dass vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann, oder wenn sonst anerkannte Auslegungsmethoden dies verlangen. Diese Grundsätze hat der Bundesfinanzhof bereits in einer Entscheidung vom 20.11.2019 unter dem Aktenzeichen XI R 46/17 gefestigt.
Unter Anwendung dieser genannten Auslegungsmethoden kommt der Bundesfinanzhof in seiner aktuellen Entscheidung vom 29.6.2022 unter dem Aktenzeichen X R 1/20 zu dem Schluss, dass die Annahme eines Erstattungsüberhangs bei der Kirchensteuer nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass im Erstattungsjahr keine Kirchensteuer gezahlt worden ist. Die gegenteilige Annahme, wonach die Vorschrift des Erstattungsüberhangs das Vorliegen einer verrechenbaren Kirchensteuerzahlung voraussetzt, hält der Bundesfinanzhof für falsch.
Entsprechend der gesetzlichen Definition wird lediglich ein „Übersteigen“ der erstatteten Aufwendungen seitens der Regelung gefordert. Ein „Verrechnen“ von gezahlter Kirchensteuer ist hingegen nicht Bestandteil der Legaldefinition des Erstattungsüberhangs.
Auch der Normenzusammenhang führt zu keiner abweichenden Beurteilung, so der Bundesfinanzhof. Auch soweit in § 10 Absatz 4b Satz 2 EStG im Zusammenhang mit dem Begriff des „Erstattungsüberhangs“ von „geleisteten“ Aufwendungen die Rede ist und die Norm hieran anknüpft, wird damit lediglich der häufig vorkommende Fall eines betragsmäßigen und damit auch verrechenbaren Aufwands beschrieben, ohne dass aber bei einer Zahlung ein Überhang der Erstattungen von vornherein ausscheiden würde.
Sollte ein Erstattungsüberhang nur möglich sein, wenn auch Aufwendungen geleistet worden wären, würde dies auch zu einem sittenwidrigen Ergebnis führen. Die anhand der Gesetzesbegründung vorgenommene historische und teleologische Gesetzesauslegung bedingt, dass ein Erstattungsüberhang im Sinne dieser Vorschrift auch im Fall einer fehlenden Kirchensteuerzahlung im Erstattungsjahr gegeben sein muss.
Zur seinerzeitigen Begründung hatte die Bundesregierung im Entwurf des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 darauf hingewiesen, dass auch die Erhöhung der Rechtssicherheit im Besteuerungsverfahren ein Beitrag zur Vereinfachung darstelle und die vorgesehenen Maßnahmen dem Ziel dienten, dass Besteuerungsverfahren vorhersehbarer, transparenter und nachvollziehbarer zu gestalten und so durch mehr Verlässlichkeit im Verfahren ebenfalls Aufwand für alle Beteiligten zurückzuführen. Diesem Anliegen trage der seinerzeitige Gesetzesentwurf auch Rechnung, indem Erstattungen von Sonderausgaben, insbesondere von Kirchensteuern, die die in dem entsprechenden Jahr geleisteten Zahlungen übersteigen, künftig nur noch im Jahr der Erstattung berücksichtigt würden. Damit könne ein Wiederaufrollen der Steuerfestsetzung aus den Vorjahren vermieden werden. Der Steuerpflichtige müsse keine Änderung für zurückliegende Veranlagungszeiträume mehr nachvollziehen.
Dementsprechend ist die Regelung zum Erstattungsüberhang auch von dem Ziel der Verfahrensvereinfachung getragen. Bei einem Erstattungsüberhang betreffend die Kirchensteuer sollen nicht mehr die Bescheide der zurückliegenden Zahlungsjahre geändert werden. Vielmehr sollen die steuerlichen Konsequenzen im Veranlagungszeitraum übergreifend im Erstattungsjahr durch den Ansatz einer umgekehrten bzw. „negativen“ Sonderausgabe gezogen werden. So auch die einhellige Auffassung in der Rechtsprechung. Ein Kirchensteuererstattungsüberhang liegt damit auch dann vor, wenn der Steuerpflichtige im Veranlagungszeitraum der Kirchensteuererstattung überhaupt keine Kirchensteuer gezahlt hat.
Darüber hinausgehend stellt der Bundesfinanzhof in der aktuell vorliegenden Entscheidung im Anschluss an sein Urteil vom 12.3.2019 unter dem Aktenzeichen IX R 4/17 auch abermals klar, dass die Hinzurechnung des Erstattungsüberhangs auch dann stattfindet, wenn sich die erstattete Zahlung der Kirchensteuer im Zahlungsjahr überhaupt nicht steuermindernd ausgewirkt hat. Dies ist für betroffene Steuerpflichtige sicherlich der schlimmste Fall.