1. Für alle Steuerpflichtigen: Zugangsvermutung innerhalb der Drei-Tages-Frist bei zustellungsfreien Tagen

Das Finanzgericht in Berlin-Brandenburg musste sich mit der Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nummer 1 der Abgabenordnung (AO) beschäftigen, wenn innerhalb der dort genannten Drei-Tages-Frist an einem Werktag regelmäßig keine Postzustellung stattfindet. Tatsächlich dürfte dieser Sachverhalt in der Praxis gar nicht so selten vorkommen, weshalb die Entscheidung aus Berlin-Brandenburg durchaus eine gewisse allgemeine Wichtigkeit besitzt. Ebenso werden darin die verfahrensrechtlichen Grundlagen gut erklärt, was auch in anderen Steuerstreitigkeiten mit der Finanzbehörde hilfreich sein kann.
Im vorliegenden Finanzgerichtsverfahren kommt das erstinstanzliche Finanzgericht mit Entscheidung vom 24.8.2022 unter dem Aktenzeichen 7 K 7045/20 zu dem Schluss, dass in entsprechenden Fällen die Zugangsvermutung keine Anwendung findet, wenn die Post regelmäßig nicht an allen Werktagen vom Postdienstleistungsunternehmen zugestellt wird.
In der Urteilsbegründung der erstinstanzlichen Entscheidungen heißt es unter anderem: Die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nummer 1 AO ist zu einer Zeit kodifiziert worden, als ausschließlich die Deutsche Bundespost Briefpost in der Bundesrepublik Deutschland beförderte und zustellte und das regelmäßig an sechs Tagen in der Woche machte. Die Regelung des § 122 Abs. 2 AO stammt nämlich bereits aus dem Jahre 1976.
Auch wenn dem Grunde nach auch bei der Beauftragung privater (also nicht mit der Deutschen Bundespost bzw. der Deutschen Post AG identischer) Postdienstleister die Zugangsvermutung gilt, muss dennoch die Arbeitsweise der Postdienstleister in den wesentlichen Zügen mit denen der Deutschen Bundespost übereinstimmen. Anders könnte die Zugangsvermutung nicht kodifiziert werden, was sich bereits aus der sogenannten Subunternehmer-Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs durch Beschluss vom 7.5.2019 unter dem Aktenzeichen III B 59/18 ergibt. In diesem Beschluss hatte der Bundesfinanzhof dargelegt, dass die Zugangsvermutung widerlegt ist, wenn ein beauftragtes Postdienstleistungsunternehmen zur Beförderung von Postsendungen einen anderen Postdienstleister einschaltet und es insgesamt nicht feststeht, dass es hierdurch eben nicht zu Verzögerungen kommt.
Zwar findet die Zugangsvermutung auch Anwendung, wenn beispielsweise wegen mehrerer arbeitsfreier Tage oder Personalausfall innerhalb der Drei -Tages-Frist an zwei Tagen keine Zustellung stattfindet. So wird beispielsweise bei Aufgabe zur Post am Freitag, den 30. April, trotz des Feiertages am 1. Mai der Zugang am Montag, dem 3. Mai grundsätzlich vermutet. Insoweit handelt es sich jedoch um eine Sonderkonstellation, die die grundsätzliche Anwendung der Zugangsvermutung nicht infrage stellen kann.
Dies stellt sich jedenfalls dann anders dar, wenn innerhalb der Drei-Tages-Frist vollkommen planmäßig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Zustellung erfolgt. Dann ist dies nämlich keine Sonderkonstellation mehr.
Im Urteilssachverhalt verhielt es sich so, dass nach glaubhafter Aussage eines Zeugen die Post am Samstag, den 16.6.2018, und dann erst wieder am Dienstag, den 19.6.2018, im Zustellerzentrum angeliefert wurde. Am Montag, den 18.6.2018, wurden dann die am Samstag, den 16.6.2018, angelieferte oder an diesem Tag nicht zugestellte Post ausgetragen. Die Zustellung durch das Postzustellungsunternehmen wäre daher der Zugangsvermutung nur dann gerecht geworden, wenn der angefochtene Bescheid am Samstag, dem 16.6.2018, als an dem auf die Aufgabe zur Post folgenden Tag im für die Wohnung der Klägerin zuständigen Zustellerzentrum des Postzustellungsunternehmens angeliefert und daraufhin am Montag, den 18.6.2018, in den Briefkasten der Klägerin eingeworfen worden wäre. Das Gericht kommt daher zu dem Schluss, dass angesichts der Tatsache, dass im Jahresdurchschnitt nur 80 % der Briefe am Tag nach der Einlieferung zuzustellen sind und dass weniger als 12 Stunden zwischen Einlieferung im Verteilerzentrum und Anlieferung im Zustellerzentrum lagen, Verzögerungen ohne weiteres denkbar erscheinen.
Zulasten der Klägerin ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass sie den Briefumschlag, in dem ihr der angefochtene Bescheid übersandt wurde, nicht vorlegen konnte. Selbstverständlich ist die Klägerin zwar grundsätzlich zur Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet, indem sie den Briefumschlag, in dem ihr der angefochtene Bescheid übersandt wurde, vorlegt. Zu dieser Frage hat sie auch bereits der Bundesfinanzhof in einem Beschluss vom 21.12.2001 unter dem Aktenzeichen VIII B 132/00 geäußert. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Beispielsweise gilt es dann nicht, wenn sich auch aus dem übrigen Vortrag des Steuerpflichtigen Zweifel am Zugang innerhalb der Drei-Tages-Frist ergeben. So auch bereits der Bundesfinanzhof in einem Urteil vom 22.5.2019 unter dem Aktenzeichen X B 109/18.
Auch in dem oben bereits zitierten „Subunternehmer-Urteil“ hat der Bundesfinanzhof in seiner Entscheidung vom 14.6.2018 unter dem Aktenzeichen III R 27/17 der von der Vorinstanz festgestellten Tatsache, dass der Briefumschlag nicht vorgelegt wurde, keine Bedeutung zugemessen. Jedenfalls betonen die Entscheidungen, die grundsätzlich von einer derartigen Beweispflicht ausgehen, dass das Finanzgericht den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post in freier Beweiswürdigung ermitteln muss. So auch der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 27.11.2002 unter dem Aktenzeichen X R 17/01. Insoweit versteht das erstinstanzliche Gericht die höchstrichterliche Rechtsprechung dahingehend, dass etwaige Mängel bei der Substantiierung des Bestreitens unerheblich sind, wenn die Zugangsvermutung nicht greift. Folglich ist der Umstand, dass die Klägerin im vorliegenden Fall den Briefumschlag, in dem der Einkommensteuerbescheid übersandt wurde, nicht mehr vorlegen kann, nicht streiterheblich.
Abschließend betont das erstinstanzliche Finanzgericht noch, dass verbleibende Unsicherheiten im Sachverhalt, beispielsweise dass der Postzusteller sich nicht mehr erinnern konnte, in welcher Reihenfolge er seine Zustellertour gefahren ist, grundsätzlich zulasten des Beklagten, sprich des Finanzamtes, gehen. Der Fiskus trägt die Feststellungslast für den Zeitpunkt der Bekanntgabe des von ihm erlassenen Bescheides. Auch insoweit kann sich der Fiskus daher in einem entsprechenden Fall nicht auf die Zugangsvermutung berufen.

Da es das Finanzgericht jedoch für höchstrichterlich klärungsbedürftig hält, ob die Zugangsvermutung tatsächlich entfällt, wenn innerhalb der dort genannten Drei-Tages-Frist an einem Werktag regelmäßig keine Postzustellung stattfindet, hat es die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.

Da sich der Fiskus nicht mit der steuerzahlerfreundlichen Entscheidung zufriedengeben möchte, hat er wiederum die Revision eingelegt. Beim Bundesfinanzhof in München wird diese unter dem Aktenzeichen VI R 18/22 geführt. Betroffenen sei durchaus empfohlen, sich an das Verfahren anzuhängen, wenn es denn aufgrund der Nichtzustellung innerhalb der Drei-Tages-Frist tatsächlich zu einem Fristproblem gekommen ist.