5. Für alle Steuerpflichtigen: Grundsätzlicher Anspruch auf Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren

Mandantenbrief WBS Gruppe

Die Abgabenordnung (AO) enthält, anders als andere Verfahrensordnungen, keine Regelung, nach der ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht. Der Gesetzgeber hat ein allgemeines Akteneinsichtsrecht im Steuerverwaltungsverfahren für nicht praktikabel gehalten, weil diesem Gesichtspunkte des Schutzes Dritter und das Ermittlungsinteresse der Finanzbehörden sowie der Verwaltungsaufwand der Finanzbehörde entgegenstünden, die vor jeder Akteneinsicht zu prüfen hätte, ob ein Geheimhaltungsinteresse Dritter beeinträchtigt sein könnte und dann das gesamte Kontrollmaterial, behördeninterne Vermerke und Anweisungen und Ähnliches aus den Akten zu entfernen wären. So ist es in etwa der Bundestagsdrucksache 7/4292 auf Seite 24 ff. zu entnehmen.
Ein solches allgemeines Einsichtsrecht ist auch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs weder aus der Regelung des § 91 Abs. 1 der AO noch aus § 364 AO abzuleiten. Gleichwohl geht der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung auch davon aus, dass dem während eines Verwaltungsverfahrens um Akteneinsicht ersuchenden Steuerpflichtigen oder seinem Vertreter jedenfalls ein Anspruch auf eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung der Behörde zusteht, weil die Behörde nicht gehindert ist, in Einzelfällen Akteneinsicht zu gewähren. So beispielsweise schon der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung vom 6.8.1965 unter dem Aktenzeichen VI 349/63. Grundlage dieses Anspruchs ist das Rechtsstaatsprinzip, welches in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Prozessgrundrecht gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verankert ist. Vergleiche dazu die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 19.3.2013 unter dem Aktenzeichen II R 17/11.
Das Niedersächsische Finanzgericht geht in seiner Entscheidung vom 18.3.2022 unter dem Aktenzeichen 7 K 11.127/18 davon aus, dass der Anspruch des Einsichtsuchenden auf fehlerfreie Ermessensentscheidung gewahrt ist, wenn die Behörde im Rahmen einer Interessenabwägung dessen Belange und die der Behörde gegeneinander abgewogen hat. So auch einem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 4.6.2003 unter dem Aktenzeichen VII B 138/01 zu entnehmen.
Das Gericht kann eine solche behördliche Ermessensentscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nur daraufhin überprüfen, ob die Behörde von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht hat, die Grenzen ihres Ermessens überschritten oder dieses Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise ausgeübt hat. So auch die obersten Finanzrichter der Republik mit Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 6.11.2012 unter dem Aktenzeichen VII R 72/11.
Der Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung. Bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze kam daher das Niedersächsische Finanzgericht zu dem Schluss, dass im hier vorliegenden Einzelfall die begehrte Akteneinsicht zu Unrecht abgelehnt wurde.
Dabei stellt das erstinstanzliche Finanzgericht bereits in seinen Leitsätzen klar, dass beispielsweise die Bestandskraft eines Steuerbescheides dem Recht auf Akteneinsicht nicht grundsätzlich entgegensteht. Ganz klar formulieren die erstinstanzlichen Richter, dass die Datenschutz-Grundverordnung auch im Bereich der Steuerverwaltung bei der Verwaltung der direkten Steuern anwendbar ist. Insoweit lassen die Richter keinen Zweifel daran, dass dem Steuerpflichtigen ein Anspruch auf Auskunft nach Art. 15 der Datenschutz-Grundverordnung zusteht. Lediglich die konkrete Ausgestaltung liegt im Ermessen der Finanzbehörde. Ganz klar kann sie also die Gewährung von Akteneinsicht als die zweckmäßigste Form der Auskunftserteilung erweisen.

Nicht schwer auszumalen, dass sich die Finanzbehörde mit dieser positiven erstinstanzlichen Entscheidung nicht zufriedengibt. Daher muss nun der Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen IX R 21/22 klären, ob einem Steuerpflichtigen ein Anspruch auf Akteneinsicht in die hier vorliegende Einkommensteuerakte 2015 im Nachgang zur zwischenzeitlich bereits eingetretenen Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides nach den Grundsätzen einer Ermessensentscheidung durch die Finanzbehörde und nach den Vorschriften der Datenschutz-Grundverordnung zusteht.

Tatsächlich sind die Fragestellungen hinsichtlich eines Akteneinsichtsrechts bei der Finanzverwaltung derzeit arg umstritten. Dies zeigt sich auch in einer Vielzahl von anderen Verfahren. So muss der Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen IX R 22/22 die Rechtsfrage klären, ob ein Steuerpflichtiger einen Anspruch aus §§ 32a ff. der Abgabenordnung (AO) oder nach der Datenschutz-Grundverordnung auf Auskunft über die beim Finanzamt über ihn gespeicherten und verarbeiteten personenbezogenen Daten sowie auf Zurverfügungstellung einer Kopie der Daten hat. Das erstinstanzliche Finanzgericht München hat mit Urteil vom 19.5.2022 unter dem Aktenzeichen 15 K 2067/18 einen Anspruch auf Auskunft nach Art. 15 der Datenschutz-Grundverordnung verneint.

Weiterhin muss der Bundesfinanzhof unter dem Aktenzeichen IX R 26/22 klären, in welchem Umfang und in welcher Form aus der europäischen Datenschutz-Grundverordnung ein Auskunftsanspruch gegenüber den Finanzbehörden erwächst. Auch hier hat das Finanzgericht Münster in seiner Entscheidung vom 11.5.2022 unter dem Aktenzeichen 9 K 848/20 die Meinung vertreten, dass die Datenschutz-Grundverordnung keinen Anspruch des Steuerpflichtigen auf Vorlage sämtlicher Daten in elektronischer Form begründet. Die Richter vertreten die Meinung, dass die entsprechende Vorlagepflicht in Art. 15 Abs. 3 der Datenschutz-Grundverordnung restriktiv auszulegen ist. Die Vorlagepflicht knüpft an die Auskunftspflicht gemäß Art. 15 Abs. 1 Datenschutz-Grundverordnung an und ist eines der Mittel, mit denen der Verpflichtete seine Auskunftspflicht erfüllt, soll aber auch nicht weiter gehen als besagte Auskunftspflicht. Insoweit entschieden die erstinstanzlichen Richter, dass aus der Datenschutz-Grundverordnung auch kein Anspruch auf Vorlage sämtlicher durch die Weiterverarbeitung entstandener Daten bzw. Verarbeitungsergebnisse folgt.

Auch unter dem Aktenzeichen IX R 27/22 beim Bundesfinanzhof geht es um eine Frage zur Akteneinsicht. Konkret gab es hier eine anonyme Anzeige im Betriebsprüfungsverfahren, über die der Steuerpflichtige mehr erfahren möchte. Einen entsprechenden Auskunftsanspruch hat das Finanzgericht Düsseldorf mit Urteil vom 10.8.2022 unter dem Aktenzeichen 4 K 879/21 AO zurückgewiesen. Bei einer der Finanzbehörde vorliegenden anonymen Anzeige gegen einen Steuerpflichtigen handelt es sich um personenbezogene Daten. Insoweit stellen die erstinstanzlichen Richter klar, dass die Gewährung auf Akteneinsicht durch die Überlassung einer Kopie der anonymen Anzeige an den Steuerpflichtigen nur dann in Betracht kommt, wenn im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung das Interesse des Steuerpflichtigen auf Auskunft das durch das Steuergeheimnis geschützte Geheimhaltungsinteresse des Anzeigenerstatters überwiegt.

Ein weiteres interessantes Verfahren beim Bundesfinanzhof verbirgt sich noch hinter dem Aktenzeichen IX R 35/21. Dabei geht es um die Rechtsfrage, ob ein Steuerpflichtiger einen Anspruch gegenüber dem Finanzamt auf Zurverfügungstellung einer physischen oder elektronischen Kopie der Steuerakten hat. Leider hat auch hier das erstinstanzliche Finanzgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 27.10.2021 unter dem Aktenzeichen 16 K 5148/20 die Zurverfügungstellung abgelehnt und einen Anspruch des Steuerpflichtigen verneint.

All diese Verfahren zeigen, dass hier einiges in Bewegung ist und wir uns mit der Thematik in der Zukunft sicherlich erneut beschäftigen werden müssen.