Der Bundesfinanzhof hat bereits in einer Entscheidung vom 19.8.1999 unter dem Aktenzeichen I R 77/96 entschieden, dass von den Beteiligungsverhältnissen abweichende inkongruente Gewinnausschüttungen steuerrechtlich anzuerkennen sind und grundsätzlich auch dann keinen Gestaltungsmissbrauch darstellen, wenn andere als steuerliche Gründe für solche Maßnahmen nicht erkennbar sind. Diese Auffassung entspricht mittlerweile der ständigen Rechtsprechung der Finanzgerichte. Dennoch hat die Finanzverwaltung im Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 17.12.2013 bestimmte Einschränkungen getroffen.
Nach dem Ergebnis der Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt zur steuerlichen Anerkennung einer inkongruenten Gewinnausschüttung danach, also wohlgemerkt nur nach Verwaltungsmeinung, das Folgende:
Die steuerliche Anerkennung einer inkongruenten Gewinnausschüttung setzt zunächst voraus, dass eine vom Anteil am Grund- oder Stammkapital abweichende Gewinnverteilung zivilrechtlich wirksam bestimmt ist. Dies ist nach Meinung der Finanzverwaltung jedoch nur der Fall, wenn bei einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
Nach Auffassung der Finanzverwaltung muss schon im Gesellschaftsvertrag der GmbH ein anderer Maßstab der Verteilung als das Verhältnis der Geschäftsanteile des Gesellschaftsvertrags festgesetzt sein. Für eine nachträgliche Satzungsänderung zur Regelung der ungleichen Gewinnverteilung ist insoweit gemäß § 53 Abs. 3 des GmbH-Gesetzes die Zustimmung aller Beteiligten erforderlich. Als Alternative zu dieser Voraussetzung kommt noch in Betracht, dass die Satzung anstelle eines konkreten Verteilungsmaßstabs bereits eine Klausel enthält, nach der alljährlich mit Zustimmung der beeinträchtigten Gesellschafter oder einstimmig über eine von der satzungsmäßigen Regelung abweichende Gewinnverteilung geschlossen werden kann, und der Beschluss mit der in der Satzung bestimmten Mehrheit gefasst worden ist.
Auf Basis dieser Verwaltungsanweisung erkannte die Finanzverwaltung in der Vergangenheit inkongruente Gewinnausschüttungen nicht an, wenn es an einer entsprechenden Klausel in der Satzung der GmbH fehlte. Dem hat sich jedoch bereits das Finanzgericht Münster mit Urteil vom 6.5.2020 unter dem Aktenzeichen 9 K 3359/18 E, AO entgegengesetzt und klar und deutlich festgestellt, dass ein von der Satzung abweichender, punktuell einen Einzelfall regelnder Gewinnverteilungsbeschluss auch ohne eine Änderung der Satzung zivilrechtlich wirksam ist. Zur Begründung ist auszuführen:
Gesellschaftsrechtlich sind inkongruente Gewinnausschüttungen zulässig. Die Anteilseigner einer Kapitalgesellschaft können sich auf eine von den Beteiligungsverhältnissen abweichende Gewinnbeteiligung verständigen. Grundsätzlich und für sich genommen bestehen keine Bedenken, dem auch in steuerrechtlicher Hinsicht zu folgen. Nahezu jede Gewinnausschüttung, die verdeckt erfolgt, stellt zugleich eine inkongruente dar. So auch bereits zu entnehmen einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 29.9.1981 unter dem Aktenzeichen VIII R 8/77. Es gibt daher keinen Grund, offene inkongruente Gewinnausschüttungen, die mit dem Gesellschaftsrecht in Einklang stehen, steuerlich hiervon abweichend zu behandeln. So auch bereits der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung vom 19.8.1999 unter dem Aktenzeichen I R 77/96. Dem folgend ebenso der Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 4.5.2012 unter dem Aktenzeichen VIII B 174/11 sowie eine Entscheidung vom 4.12.2014 unter dem Aktenzeichen IV R 28/11.
Insoweit können inkongruente Gewinnausschüttungen entgegen der Auffassung des Finanzamtes und des Schreibens des Bundesfinanzministeriums vom 17.12.2013 zivilrechtlich nicht nur dann anzuerkennen sein, wenn im Gesellschaftsvertrag ein anderer Maßstab der Verteilung als das Verhältnis der Geschäftsanteile im Gesellschaftsvertrag festgesetzt ist oder eine Öffnungsklausel besteht. Der Umstand, dass der Gesellschaftsvertrag der GmbH einen abweichenden Gewinnverteilungsschlüssel oder eine Öffnungsklausel nicht vorsieht, lässt die zivilrechtliche Wirksamkeit eines unter Zustimmung aller Gesellschafter zustande gekommenen Beschlusses über die abweichende Gewinnverteilung nicht entfallen. So auch bereits das Finanzgericht Köln in einer Entscheidung vom 14.9.2016 unter dem Aktenzeichen 9 K 1560/14.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Gesellschafter gesellschaftsrechtlich frei sind, einander Gewinnanteile zu überlassen.
Entgegen der Auffassung des Finanzamtes stellt ein solcher von der Satzung abweichender Gewinnverteilungsbeschluss auch keine Satzungsänderung dar, die zu ihrer Wirksamkeit notariell beurkundet und in das Handelsregister eingetragen werden müsste. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geht davon aus, dass Gesellschafterbeschlüsse, die Satzungsrecht durchbrechen, aber nur einen Einzelfall regeln, keine Satzungsänderung beinhalten und deshalb auch ohne Einhaltung der für Satzungsänderungen geltenden formellen Vorgaben jedenfalls nicht nichtig, sondern wirksam sind. Die Zulässigkeit bzw. Wirksamkeit von Satzungsdurchbrechungen, die nicht den formellen Voraussetzungen unterliegen, wie sie für Satzungsänderung gelten, ist dabei auf punktuelle Regelungen beschränkt, bei denen sich die Wirkung des Beschlusses in der jeweiligen Maßnahme erschöpft.
In bestätigender Weise der ersten Instanz kommt auch der Bundesfinanzhof in seiner aktuellen Entscheidung vom 28.9.2022 unter dem Aktenzeichen VIII R 20/20 zu demselben Ergebnis. Auch nach Auffassung der obersten Finanzrichter der Republik ist ein punktuell satzungsdurchbrechender Beschluss über eine inkongruente Vorabausschüttung, der von der Gesellschafterversammlung einstimmig gefasst worden ist und von keinem Gesellschafter angefochten werden kann, als zivilrechtlich wirksamer Ausschüttungsbeschluss der Besteuerung zugrunde zu legen. Damit richtet sich der Bundesfinanzhof klar gegen die Auffassung der Finanzverwaltung im Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 17.12.2013.
In der Folge bedeutet dies, dass ein Gesellschafter, an den nach einem solchen Beschluss kein Gewinn verteilt wird, den Tatbestand der Einkünfteerzielung auch nicht verwirklicht und ihm dementsprechend keine Einkünfte aus Kapitalvermögen (also auch keine aus einer verdeckten Gewinnausschüttung) zufließen.
Ob eine inkongruente Vorabgewinnausschüttung ausweislich der Regelung in § 42 der Abgabenordnung (AO) ein Gestaltungsmissbrauch ist, ist bei zivilrechtlich wirksamen punktuell satzungsdurchbrechenden Beschlüssen nach denselben Maßstäben zu beurteilen, die für satzungsgemäße inkongruente Ausschüttungen gelten. Sofern daher eine zivilrechtliche Wirksamkeit gegeben ist, wie sie bei punktuell satzungsdurchbrechenden Beschlüssen in Betracht kommt, ist nach der aktuellen Entscheidung kein Missbrauch von rechtlichen und steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten gegeben.