Zugegeben, der Sachverhalt des vorliegenden Streitfalls ist ein wenig spezieller, dennoch kann der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung durchaus auch in anderen Sachverhalten sehr hilfreich sein.
Zunächst zu den Details des Streitfalls: In Urteilsfall richtete das Finanzamt schriftliche Anfragen wegen einer beabsichtigten Haftungsinanspruchnahme an die Kläger. Darauf antworteten die Kläger bzw. ihr Prozessbevollmächtigter (Steuerberater oder Rechtsanwalt) zunächst nicht. Aus diesem Grund erließ das Finanzamt die Haftungsbescheide. Innerhalb der Einspruchsfrist nahm schließlich der Steuerberater oder Rechtsanwalt für die Kläger Stellung zu den zuvor gestellten Anfragen. Tatsächlich waren ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch die Haftungsbescheide nicht bekannt. Nachdem der Prozessbevollmächtigte von den Haftungsbescheiden erfahren hatte, bat er darum, sein Schreiben hinsichtlich der Anfragen als Einsprüche zu werten. Nicht zuletzt weil die Einspruchsfrist mittlerweile abgelaufen war, folgte das Finanzamt dieser Bitte nicht und verwarf die Einsprüche wegen Fristablauf als unzulässig.
Nun ist es durchaus bekannt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, Schreiben (auch solche von Prozessbevollmächtigten) als Einsprüche auszulegen. Fehlt es nämlich an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des wirklich Gewollten, hat die Finanzverwaltung den wirklichen Willen durch Auslegung zu ermitteln. Dies gilt grundsätzlich auch für die Erklärung rechtskundiger Personen, wie etwa Steuerberatern oder Rechtsanwälten. Die Auslegung darf jedoch nicht zur Annahme eines Erklärungsinhaltes führen, für den sich in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte finden lassen. Eine derartige Korrektur kann auch mit dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung nicht gerechtfertigt werden, wie bereits der Bundesfinanzhof in einer früheren Entscheidung vom 29.10.2019 unter dem Aktenzeichen IX R 4/10 klargestellt hat.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze kann daher das Beantwortungsschreiben des Steuerberaters oder Rechtsanwalts auf die Anfragen zur Haftungsinanspruchnahme nicht als Einspruch ausgelegt werden. Der wirkliche Wille des Prozessbevollmächtigten kann nicht auf die Anfechtung der Haftungsbescheide und somit auf eine Einspruchseinlegung gerichtet gewesen sein, da ihm nachweislich zu diesem Zeitpunkt, also im Zeitpunkt des Verfassens der Schriftstücke, die Haftungsbescheide noch unbekannt gewesen sind. Eine entsprechende Auslegung ist auch schon ausweislich der Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 24.8.2004 unter dem Aktenzeichen VIII R 7/04 nicht möglich.
Diesem Auslegungsergebnis steht auch nicht entgegen, dass der Prozessbevollmächtigte erst im Anschluss an die Schriftsätze zur Beantwortung der Fragen gegenüber dem Finanzamt erklärte, dass er keine Kenntnis von den Haftungsbescheiden hat. Denn im Rahmen der Auslegung dürfen auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden, selbst wenn diese erst nach Ablauf der Einspruchsfrist konkretisiert werden.
Das erstinstanzlich erkennende Finanzgericht Münster kommt jedoch in seiner Entscheidung vom 12.1.2023 unter dem Aktenzeichen 8 K 1080/21 zu dem Schluss, dass die streitgegenständlichen Schreiben des Prozessbevollmächtigten in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 140 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in Einsprüche umzudeuten sind.
§ 140 BGB regelt, dass, wenn ein wichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts entspricht, das Letztere gilt, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde. Zivilrechtlich bestehen Sinn und Zweck der Umdeutung darin, den von Parteien erstrebten wirtschaftlichen Erfolg auch dann zu verwirklichen, wenn das rechtliche Mittel, das sie dafür gewählt haben, unzulässig ist, jedoch ein anderer, rechtlich gangbarer Weg zur Verfügung steht, der annähernd zu gleichen wirtschaftlichen Ergebnissen führt. So schon der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 21.3.1977 unter dem Aktenzeichen II ZR 96/75. Das gewählte untaugliche Mittel wird durch ein anderes, taugliches Mittel ersetzt. Während sich die Auslegung am tatsächlichen Willen orientiert, richtet sich die Umdeutung nach dem mutmaßlichen Willen bei unterstellter Kenntnis der Nichtigkeit des Rechtsgeschäftes.
Vor diesem Hintergrund vertritt das Finanzgericht Münster mit oben genannter Entscheidung die Meinung, dass nach dem Rechtsgedanken des § 140 BGB ein Schreiben, das eine nichtige oder wegen Anfechtung unwirksame Verfahrenserklärung beinhaltet, nicht als Einspruch ausgelegt werden kann, dennoch in einen Einspruch umgedeutet werden kann. Für die Praxis könnte das in vielen Fällen zum Rettungsanker werden.
Betroffene in einer ähnlichen Problematik sollten sich dennoch auch jetzt schon auf die positive Rechtsprechung des erstinstanzlichen Finanzgericht Münsters berufen, um gegebenenfalls aus verfahrensrechtlicher Sicht eine aussichtslose Lage nochmals zu reparieren.