Unter dem Aktenzeichen X R 19/21 klärt der Bundesfinanzhof, unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Richtsatzschätzung anhand der Richtsätze des Bundesfinanzministeriums zulässig ist. Mit Beschluss vom 14.12.2022 hat der Bundesfinanzhof nun das Bundesfinanzministerium zum Verfahrensbeitritt aufgefordert. Insoweit erläutern die obersten Finanzrichter der Republik wie folgt:
Entsprechend der gesetzlichen Vorschrift in § 162 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Ausweislich der Finanzgerichtsordnung hat auch das Finanzgericht eine entsprechende Schätzungsbefugnis. Zu schätzen ist unter anderem,
wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder
seine Mitwirkungspflicht verletzt.
Gleiches gilt insbesondere,
wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann,
wenn die Buchführung oder die Aufzeichnung der Besteuerung nicht nach § 158 AO zugrunde gelegt werden oder
wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögenswährungen bestehen.
Formelle Buchführungsmängel berechtigten nur insoweit zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln.
Entsprechend der gesetzlichen Vorschrift in § 162 AO sind bei der Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen, die von Bedeutung sind. Die Schätzungsergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. So insbesondere zu entnehmen einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 17.6.2020 unter dem Aktenzeichen X R 26/18.
Insgesamt ist durch die Rechtsprechung bereits geklärt, dass das Finanzamt und in der Folge auch das Finanzgericht in der Wahl seiner Schätzungsmethode frei ist. Es ist Sache der Tatsacheninstanz zu entscheiden, welcher Schätzungsmethode sie sich bedienen möchte, wenn diese geeignet ist, ein vernünftiges und der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis zu erzielen. Der Steuerpflichtige selbst hingegen hat keinen Anspruch auf die Anwendung einer bestimmten Schätzungsmethode. Weder das Finanzamt noch das Finanzgericht sind grundsätzlich verpflichtet, das aufgrund einer Schätzungsmethode gewonnene Ergebnis noch durch die Anwendung einer weiteren Schätzungsmethode zu überprüfen oder zu untermauern.
Allerdings ergibt sich aus dem ermessenhaften Vorgehen der Finanzverwaltung in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Wahlfreiheit von Finanzamt und Finanzgericht bei der Auswahl zwischen mehreren in Betracht kommenden Schätzungsmethode eingeschränkt ist und dabei auch Verhältnismäßigkeitserwägungen zu betrachten sind. Jede Schätzung hat zum Ziel, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Tatsachenfeststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist. Ermessensleitend ist deshalb das Ziel, die Besteuerungsgrundlagen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen so zu bestimmen, dass sie der Wirklichkeit möglichst nahekommen. Kommt eine bestimmte Schätzungsmethode diesem Ziel voraussichtlich näher als eine andere, ist die erstgenannte unter Ermessensgesichtspunkten vorzugswürdig.
Nach Maßgabe dieser vorgenannten Grundsätze hat die höchstrichterliche Rechtsprechung die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen durch einen äußeren Betriebsvergleich anhand der aus der amtlichen Richtsatzsammlung des Bundesfinanzministeriums zu entnehmenden Richtsätze bislang als grundsätzlich anerkannte Schätzungsmethode bewertet. Allerdings hat der Bundesfinanzhof auch zum wiederholten Male klargestellt, dass die amtlichen Richtsätze keine Rechtsnorm sind. Tatsächlich sind es nur anerkannte Hilfsmittel der Verprobung und Schätzung der Umsätze und Gewinne.
Ebenso ist durch die Rechtsprechung geklärt, dass Schätzungsgrundlagen in einem Streitfall von der Finanzbehörde so dargelegt werden müssen, dass ihre Nachprüfung und insbesondere eine Schlüssigkeitsprüfung der zahlenmäßigen Ergebnisse der Schätzung möglich ist. Hierzu müssen sowohl die Kalkulationsgrundlage (und damit auch die spezifischen Daten, auf denen die Schätzung basiert) als auch die Ergebnisse der Kalkulation sowie die Ermittlungen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, offengelegt werden.
Ungeachtet dessen hat sich der Bundesfinanzhof jedoch bislang in keiner Entscheidung mehr damit auseinandergesetzt, auf welchen Grundlagen und Parametern die Richtsätze des Bundesfinanzministeriums beruhen, wie sie zustande kommen und welche Auswirkung sich hieraus auf die Tauglichkeit eines äußeren Betriebsvergleichs anhand der Richtsatzsammlung ergeben.
In Anbetracht der insbesondere für die steuerrechtliche, aber auch für die strafrechtliche Praxis erhebliche Bedeutung der Verprobung und Schätzung von Besteuerungsgrundlagen anhand der amtlichen Richtsatzsammlung erscheint es dem Bundesfinanzhof als sachgerecht, dass das Bundesfinanzministerium zum Revisionsverfahren hinzugezogen wird. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf dessen Herausgeberschaft der Richtsatzsammlung sowie im Hinblick darauf, dass weiterhin Klärungsbedarf über das Zustandekommen der einzelnen Richtsätze besteht und statistische Unzulänglichkeiten eingewandt werden.
Unklar erscheint dem Gericht vorliegend insbesondere, welche Einzeldaten mit welchem Gewicht in die Ermittlung der Richtsätze der jeweiligen Gewerbeklasse einfließen, wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird und ob es Einzeldaten gibt, die von vornherein ausgeschlossen werden.
Weiterhin ist nicht geklärt, ob die regional zum Teil erheblich unterschiedliche Höhe fixer Betriebskosten (insbesondere Raum- und Personalkosten) der Festlegung bundeseinheitlicher Richtsätze entgegensteht. Ebenso offen ist, weshalb die Ergebnisse von Außenprüfungen bei sogenannten Verlustbetrieben unberücksichtigt bleiben, obwohl auch solche Betriebe grundsätzlich einen positiven Rohgewinnaufschlagsatz ausweisen. Abschließend geht es dem Bundesfinanzhof auch darum, ob ganz oder teilweise erfolgreiche Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen gegen die auf eine Außenprüfung ergangenen Steuerbescheide Eingang in die Richtsatzsammlung finden.
Zudem stellt sich die Frage, wie dem Steuerpflichtigen ermöglicht werden kann, das Ergebnis einer Schätzung auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung -insbesondere auch im Hinblick auf die spezifischen Daten, die dieser Sammlung zugrunde liegen – nachzuvollziehen und zu überprüfen.
Wie auch immer das anhängige Revisionsverfahren ausgeht, eins ist sicherlich jetzt schon klar: Wir werden weiter dazu berichten. Bis dahin können betroffene Steuerpflichtige sich an das Musterverfahren anhängen und den eigenen Steuerfall offenhalten. Schon in dem Beschluss über die Hinzuziehung hat der Bundesfinanzhof zahlreiche offene Fragen zu den Richtsätzen aufgeworfen, die einen Einspruch im eigenen Fall allemal rechtfertigen.