4. Für alle Steuerpflichtigen: Abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen bei Verletzung des subjektiven Nettoprinzips

Mandantenbrief WBS Gruppe

Sachliche Billigkeitsgründe, die zu einer abweichenden (also meist geringeren) Steuerfestsetzung führen können, liegen vor, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage, wenn er sie denn geregelt hätte, im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte.

Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen kann eine Grundrechtsverletzung unter Festhaltung einer sogenannten Typengerechtigkeit im Allgemeinen zu verneinen und gleichwohl im Einzelfall die Anwendung eines generell verfassungsmäßigen Gesetzes unbillig sein.

Dies hat das Finanzgericht Köln in seiner Entscheidung vom 26.4.2023 unter dem Aktenzeichen 5 K 1403/21 insbesondere im Hinblick auf Glattstellungsgeschäfte im Rahmen von Stillhaltergeschäften mit erheblichen Verlusten so gesehen.

Wenn sich im Einzelfall in ein und demselben Veranlagungszeitraum ergibt, dass der Steuerpflichtige dergestalt hohe Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften erlitten hat, dass durch die Gesamtsteuerbelastung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag das Existenzminimum tangiert wird, liegt eine Grundrechtsverletzung in Form der Verletzung des subjektiven Nettoprinzips vor und das Ermessen der Finanzbehörde ist im Hinblick auf eine Billigkeitsmaßnahme, also auf eine geringere Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen, auf Null reduziert.

Die Rechtsgemeinschaft muss es jedenfalls dann, wenn sie die Gewinne hochspekulativer Tätigkeiten mit Wettcharakter besteuert, auch ertragen, sich zumindest insoweit an den Verlusten des Steuerpflichtigen zu „beteiligen”, als diesem aus seiner steuerrelevanten Tätigkeit noch das Existenzminimum im jeweiligen Veranlagungszeitraum steuerfrei verbleibt.

Obwohl man meinen dürfte, dass diese Entscheidung aus Köln nicht nur gerecht, sondern auch denklogisch ist, hat die Finanzverwaltung Revision eingelegt.

Unter dem Aktenzeichen IX R 18/23 müssen daher die obersten Finanzrichter des Bundesfinanzhofs klären, ob für die Frage der Freistellung des Existenzminimums nur auf das betreffende Veranlagungsjahr eine Betrachtung vorzunehmen ist oder vielmehr eine Gesamtbetrachtung über mehrere Jahre greifen kann. Da die Einkommensteuer jedoch grundsätzlich einen Veranlagungszeitraum betrifft, ist es schwer vorzustellen, dass nun hier vom Veranlagungszeitraum abgewichen wird. Das letzte Wort wird jedoch der Bundesfinanzhof in München haben.