Ausweislich der verfahrensrechtlichen Vorschrift in § 173 Abs. 1 Nummer 2 der Abgabenordnung (AO) sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Als grobes Verschulden im Sinne dieser Vorschrift hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Eine im Streitfall allein in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Dies hat bereits so der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung vom 15.7.2010 unter dem Aktenzeichen III R 32/08 definiert. Allein der Mangel an Kenntnissen eines steuerrechtlich nicht vorgebildeten Steuerpflichtigen ist grundsätzlich nicht geeignet, den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu begründen, es sei denn, der Steuerpflichtige geht Zweifelsfragen nicht nach, die sich ihm hätte aufdrängen müssen. Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist in der wesentlichen Tatfrage und in erster Linie vom Finanzgericht zu beurteilen. Dessen Würdigung kann aber im Revisionsverfahren insbesondere daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des Begriffs des „groben Verschuldens“ beruht.
In einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 18.4.2023 kommt dieser unter dem Aktenzeichen VIII R 9/20 zu dem Schluss, dass das Finanzgericht den Begriff des „groben Verschuldens“ im Sinne der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nummer 2 AO unzutreffend ausgelegt hat, weil es an die Voraussetzungen zu hohe Anforderungen gestellt hat.
Insoweit hebt der Bundesfinanzhof das Urteil des erstinstanzlichen Finanzgerichts auf und hat entschieden: Werden Einnahmen eines angestellten Chefarztes aus der Erbringung wahlärztlicher Leistungen im Rahmen der Einkommensteuererklärung irrtümlich sowohl bei den Einkünften aus selbstständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit erklärt, weil weder der Chefarzt noch sein Steuerberater erkannt haben und nach den Umständen des Streitfalls auch nicht erkennen mussten, dass diese Einnahmen bereits dem Lohnsteuerabzug unterlegen haben, liegt kein grobes Verschulden im Sinne der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Nummer 2 AO vor. Eine Änderung des Bescheides zugunsten des Steuerpflichtigen ist damit möglich.
Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs zeigt, dass die Finanzverwaltung die Voraussetzungen häufig zu streng sieht. Selbst die erstinstanzlichen Finanzrichter machen offensichtlich diesen Fehler. Für ähnlich gelagerte Fälle kann die Urteilsbegründung der aktuellen Entscheidung herangezogen werden, da hier der Bundesfinanzhof deutlich abgegrenzt, was grob fahrlässig ist und was nicht grob fahrlässig ist. Im Zweifel zeigt die Entscheidung jedoch auch, dass man den Streit mit dem Finanzamt hier nicht scheuen sollte.